Nach der deutschen Teilung setzte eine Massenflucht aus der sowjetischen Besatzungszone und der DDR in den Westen ein. Hunderttausende wanderten jährlich in die Bundesrepublik ab, zumeist aus politischen Gründen oder aus Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen. Allein bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 verlor die SED-Diktatur ein Sechstel ihrer Bevölkerung. Es war sprichwörtlich eine Abstimmung mit den Füßen. Der Mauerbau und die kontinuierliche Weiterentwicklung der Sperranlagen dämmten die Fluchtbewegung deutlich ein. Flucht wurde ebenso wie Fluchthilfe immer schwieriger und gefährlicher. Schon die Planung war strafbar. Mehr als 200 Personen verstarben an der innerdeutschen Grenze beim Versuch, aus der DDR zu entkommen. Auch der legale Weg über einen offiziellen Ausreiseantrag war riskant und führte vielfach zu Schikanen, Repressionen und politischer Inhaftierung.
Fluchtursachen
Rund 4,5 Millionen Menschen flüchteten seit der Gründung der DDR im Jahr 1949 bis zu ihrem Ende 1990 in die Bundesrepublik. Neben politischen Gründen waren verschiedenste, größtenteils wirtschaftliche und soziale Motive ausschlaggebend: Von der Attraktivität der Bundesrepublik abgesehen, waren dies die staatlichen Einschränkungen in der DDR bei der Berufswahl, Kultur und Religion und das begrenzte Angebot an Alltagswaren, Konsumgütern und Urlaubszielen, außerdem Indoktrinierung, politische Unterdrückung und Verfolgung. Weitgehend vereint waren die Flüchtenden im Drang nach Freiheit. So führten die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstands am 17. Juni 1953 oder die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft im Frühjahr 1960 zu besonders großen Abwanderungswellen. Zahlreiche Menschen trieb auch das Wiedersehen und Zusammenleben mit Familie und Freunden im Westen zur Flucht an.
„Antifaschistischer Schutzwall“
Die SED reagiert auf die Massenflucht, die vor allem junge, gut ausgebildete Personen umfasste und sich fatal auf Wirtschaft auswirkte, mit der Abriegelung der innerdeutschen Grenze 1952. Bald darauf wurde das ungenehmigte Verlassen der DDR als „Republikflucht“ strafbar gemacht, wozu auch schon Vorbereitung und Planung zählten. Es drohten mehrjährige Haftstrafen. Nach einer erneuten Fluchtwelle folgten der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 und eine verschärfte Befestigung der innerdeutschen Grenze. Offiziell als „antifaschistischer Schutzwall“ bezeichnet, diente der Mauerbau der Abschottung und Fluchtverhinderung der eigenen Bevölkerung. Zäune, Sperrgräben und Minenfelder sorgten für ein nahezu unüberwindbares Grenzsicherungssystem. Hinzu trat die Überwachung im Landesinneren, sodass mehr als 70 Prozent der Fluchtwilligen bereits vor Erreichen der Grenze verhaftet wurden.
Fluchtwege
Nach der Teilung war eine Flucht in den Westen zunächst vergleichsweise leicht. Die baulich und personell kaum gesicherte sogenannte „grüne Grenze“ bot zahlreiche Schlupflöcher, die mit der Grenzabriegelung 1952 und der anschließenden Weiterentwicklung des DDR-Grenzregimes fast ausnahmslos geschlossen wurden. Die Route über das geteilte Berlin war seit dem Mauerbau versperrt. Die oftmals schwere Entscheidung, Hof und Heimat zu verlassen, und einen Fluchtversuch für einen Neuanfang im Westen zu riskieren, erforderte daher eine umso akribischere Vorbereitung. Wege und Werkzeuge der Flucht wurden immer ausgefeilter und vielfältiger. Möglichst wenige Personen wurden in die Planung und Umsetzung einbezogen, um diese als Helfer bzw. Mitwisser vor Strafen und sich selbst vor Verrat zu schützen.
Flucht über Drittstaaten
Tausende Menschen versuchten das nahezu lückenlose DDR-Grenzregime über Drittstaaten zu umgehen. DDR-Bürger nutzen dabei die Möglichkeit zu touristischen Auslandsreisen in die sozialistischen „Bruderstaaten“ wie Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und die Tschechoslowakei, um von dort in den Westen zu entkommen. Sie reisten entweder direkt in die Bundesrepublik oder über Österreich, das blockfreie Jugoslawien und die NATO-Länder Griechenland und Türkei. Man ging davon aus, dass der „Eiserne Vorhang“ hier leichter als in der DDR zu überwinden sei. Am 11. September 1989 öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich. Rund 25.000 DDR-Bürger flüchteten bis Monatsende auf diesem Weg. Mehrere Tausend Menschen versuchten außerdem die gefährliche Fluchtroute über die Ostsee zu nehmen.
Todesopfer an der deutsch-deutschen Grenze
Ein Fluchtversuch war hochriskant, die Grenze mit Minenfeldern, Selbstschussanlagen und Schießbefehl lebensgefährlich. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand verstarben insgesamt 439 DDR-Bürger bei einem Fluchtversuch über die innerdeutsche Grenze, die Berliner Mauer, die Ostsee und die Ostblockstaaten. 89 Prozent davon waren männlich. Das Durchschnittsalter betrug 25 Jahre. Außerdem sind mehrere hundert Menschen bei Kontrollen, Festnahmen oder sonstigen Aufenthalten an der Grenze ohne Fluchtabsicht ums Leben gekommen bzw. als DDR-Grenzsoldaten im dienstlichen Zusammenhang. Unabhängig von den Umständen wurde die Todesfälle an der Grenze unter der SED-Diktatur öffentlich tabuisiert und verschwiegen.
Fluchthilfe
Zahlreiche Menschen suchten sich Unterstützung bei Fluchthelfern, die geheime Schlupflöcher aus der DDR kannten, Spezialwissen über die örtlichen Gegebenheiten an der Grenze verfügten und nicht selten einen Beruf ausübten, der es ihnen ermöglichte, die Grenze nicht nur heimlich auszukundschaften, sondern sich ihr auch unverdächtig zu nähern. Von ihnen wurden die Flüchtenden durch ausgewählte Korridore über die Grenze geschleust, zumeist in schwer zu überblickenden Waldgebieten mit eingeschränkter Überwachung. Bei der Nutzung offizieller Grenzübergänge nutzen Fluchthelfer präparierte Fahrzeuge mit Verstecken oder gefälschte Pässe. In Berlin entstanden rund 70 Tunnel zur unterirdischen Schleusung. Echte Namen wurden kaum genannt, nur absolut notwendige Informationen zwischen Helfern und Flüchtenden ausgetauscht. Dabei engagierten sich Fluchthelfer nicht nur aus uneigennütziger Solidarität, sondern zunehmend auch aus einem finanziellen Interesse.
Legale Ausreise
Die Rechte auf Freizügigkeit und Reisefreiheit waren in der DDR grundsätzlich stark beschnitten. Um das Land zu verlassen, blieb häufig nur die illegale Flucht. Denn auch der legale Weg, die DDR über einen Antrag zur ständigen Ausreise zu verlassen, der direkt mit einem Antrag auf „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“ verknüpft wurde, war riskant. Er führte vielfach zu Schikanen und Repressionen, vereinzelt sogar zu strafrechtlicher Verfolgung und Inhaftierung. Antragsteller wurden wie Verräter behandelt – nicht nur von staatlichen Behörden, oft auch von Vorgesetzten, Kollegen, Nachbarn oder Verwandten. Dennoch forderten immer mehr Bürger ihre Freiheitsrechte ein, nachdem die DDR 1975 die KSZE-Schlussakte unterzeichnet hatte, die zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichtete. Die große Ausreisewelle im Sommer 1989 trug zum Niedergang der SED-Diktatur bei.
Freikauf
Personen, die wegen eines Fluchtversuches oder Fluchthilfe in DDR-Gefängnissen saßen, zählten zu politischen Häftlingen, die seit 1963 von der Bundesrepublik freigekauft wurden. Insgesamt 33.755 Menschen erreichten bis 1989 auf diesem Weg den Westen. Im Gegenzug erhielt die DDR rund 3,4 Milliarden Mark in Devisen und Warenlieferungen. Der Transport der Häftlinge erfolgte in Reisebussen vom Kaßberg-Gefängnis in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) über den Grenzübergang Wartha-Herleshausen nach Hessen zum Notaufnahmelager Gießen. Dabei galt für alle Beteiligten striktes Stillschweigen, um den Freikauf weiterer Häftlinge nicht zu gefährden, weil der deutsch-deutsche Freikauf von Inhaftierten umstritten war.